Viennale 2019 – Das fiebrige Fazit

Wer hat gesagt, dass man für einen Rückblick gesund sein muss?

Manch gute Filme werden gerne als Fieberträume bezeichnet. Warum also nicht das Fazit über ein Filmfestival in leicht kränklichen Zustand schreiben? Na eben! Mit ein paar eher suspekten und der ein oder anderen logischen Kategorie gebe ich Einblick in mein Viennale-Experience 2019.

Ultimativer Oscar-Film: Marriage Story

Ur deprimierend, wenn dir der Michi im November einen Oscar prophezeit und du schon weißt, was das heißt: Scarlett Johansson als Nicole, Azhy Robertson als Henry und Adam Driver als Charlie in Marriage Story – © Viennale

Die Viennale und die Oscars sind im Prinzip die beiden Highlights meines persönlichen Filmjahres. Dementsprechend ist es einer meiner liebsten unnötigen Beobachtungen, zu erraten ob der kommende Oscar-Gewinner bei der Viennale lief. Heuer gibt es mit Marriage Story im Prinzip nur einen Kandidaten und mein Gefühl – das zu diesem Zeitpunkt in der Season allerdings meistens falsch liegt – sagt mir, dass das hinhaut. Noah Baumbachs Scheidungsdrama ist ebenso aktuell wie zeitlos, eckt genau genug an und ist, so ganz nebenbei, absolut fantastisch. (Don’t) Trust me: Der gwinnt des!

Der “Ich will ihn sofort wieder sehen”-Film: Booksmart

Aaaaaahhhhh, ich will ihn sofort wieder sehen: Beanie Feldstein als Molly Davidson und Kaitlyn Dever als Amy Anstler in Booksmart  – © Viennale

Ganz nüchtern betrachtet finde ich, dass sich Booksmart in Sachen Message fast ein bisschen ins eigene Fleisch schneidet. All die progressiven, cleveren Ansichten sind so früh etabliert, dass es eigentlich keine großen Charakterentwicklungen mehr braucht, um diese am Ende als große Botschaft zu entlarven. Aber oh mein Gott, das ist so scheißegal! Booksmart ist der lustigste Film, den ich seit langer langer Zeit gesehen habe. Und progressive, weltoffene Ansichten sind selbstverständlich so oder so ein großer Pluspunkt. Ich will ihn JETZT SOFORT nochmal sehen! JETZT SOFORT!

Der Film, der mir gehört: Portrait de la jeune fille en feu

Ich geb dich niemals her und der Michi gibt unseren Film niemals her, okay? Adèle Haenel als Héloïse und Noémie Merlant als Marianne in Portrait de la jeune fille en feu – © Viennale

Es gibt großartige Filme, die man in die Welt hinaustragen möchte. Schaut’s den, schaut’s den bitte! Weil man darüber diskutieren, all die fantastischen Ideen besprechen will. Und dann gibt es die wunderbar geschliffenen, endlos gscheiten, zutiefst berührenden Filme, die man am liebsten einfach nur für sich behalten würde. Praktisch alles von Celine Sciamma fällt für mich in letztere Kategorie. Es ist mir ehrlich so vollkommen wurscht, was andere von Portrait de la jeune fille en feu halten. Für mich ist diese herrlich kitschige, orschtraurige und zugleich subtil politische Liebesgeschichte wie eine zweistündige Liebeserklärung an mich selbst. Weil das Alles bei mir derart ins Schwarze trifft, dass es mir schwer fällt zu akzeptieren, dass Sciamma es nicht für mich persönlich gedreht hat. Braucht’s alle gar nicht so neugierig schauen, was ich da hab, weil der Film gehört mir!

Overhyped-Film: The Lighthouse

Und, was halt ma jetzt davon? Willem Dafoe als Thomas Wake und Robert Pattinson als Ephraim Winslow (?) in The Lighthouse – © Viennale

Eines vorweg: Ich setze den Begriff “overhyped” nicht mit “überbewertet” gleich. The Lighthouse hat ein unfassbar volles Gartenbaukino zutage gefördert. Schon gut 40 Minuten vor Filmstart war das Foyer zum Platzen gefüllt, es schien schlichtweg DER Film der Viennale zu sein. Naja, und das war er dann halt nicht. Oder zumindest war es nicht der Horrorfilm, der dich sofort mit der allergrößten Euphorie nach Hause schickt. Zweifelsohne beeindruckend schön gefilmt, gut gespielt und angenehm unangenehm, hat er viele wohl doch etwas kalt gelassen. Es ist dann doch eher etwas, das dich langsam grübeln lässt als der erwartete “Oh mein Gott”-Schocker.

Meine Persönlichkeit vs objektive Beurteilung: Tommaso

Wisst’s was ich immer schon mal wissen wollt: Ob es auf der Welt eigentlich was wichtigeres als mich gibt? Willem Dafoe als Abel Ferr… äh… als Tommaso in Tommaso – © Viennale

Nein, der neue Film von Italiens Aufreger Abel Ferrara ist sicherlich nicht das schlimmste, das der Viennale seit langem passiert ist. Aber manchmal steht die eigene Persönlichkeit einer objektiven Beurteilung ganz streng im Weg. Und genau das war bei mir bei Tommaso der Fall. Willem Dafoe ist fantastisch, aber abgesehen davon fühlte sich der Film einfach an, als würde er all meine – im bigger picture eh sicher ungerechtfertigten – Vorurteile gegenüber alten italienischen Männern bestätigen. Unfassbar egozentrisch, ein Frauenbild aus dem 20. und stolz darauf, dass man es schafft, junge Brüste vor die Kamera zu bekommen.

Meine Persönlichkeit vs mein Hype: Ema

Hält mich gefangen zwischen Hype und Zweifel: Mariana Di Girolamo als Ema in Ema – © Viennale

Dem Filmemacher Pablo Larraín kann man wohl kaum vorwerfen, er würde es allen recht machen wollen. Konsequenterweise erinnert sein Ema gleich an einen anderen streitbaren Charakter. Doch während Gaspar Nóes oft als Vergleich aufgeführtes Climax für mich großartig gefilmte, aber doch etwas inhaltslose Provokation war, konnte ich dem neuen Quasi-Tanzfilm des Chilenen wesentlich mehr abgewinnen: Wunderschöne, farbenprächtige Bilder, eine nicht zu bändigende Energie, viel Humor, ein abgefahrener Plot und ein Ende, das einen über die Intention dieses Films noch lange wird grübeln lassen. Also ja, ich bin gehypt. Und ich versteh zugleich jeden, der es aus einem ganz bestimmten Grund nicht ist. Für mich ist dieser Film keine sexistische Männerfantasie, aber ja, die ewig lange Sexszene in der Mitte hinterlässt einen Nachgeschmack. Ich bin unentschlossen. Mein Kopf protestiert leise, aber zumindest für den Moment gewinnt das euphorisierte Herz.

Schade, dass ich es in einem Jahr vergessen habe: Di jiu tian chang

Ich und mein Unterbewusstsein, heute in einem Jahr: Kannst dich an den dreistündigen chinesischen Film, noch erinnern? Ah, puh. Dunkel. Yong Mei als Wang Liyun und Wang Jingchun als Liu Yaojun in Di jiu tian chang – © Viennale

Ein dreistündiges chinesisches Drama über zwei Familien. Ja, ich weiß auch nicht, was mich daran gereizt hat. Aber ich bin froh, ins Kino gegangen zu sein, denn Di jiu tian chang, vielleicht eher merkbar unter seinem englischen Titel So Long, My Son, ist ein wirklich sehr warmer Film. Vielleicht ein bisschen unnötig komplex erzählt, nähert er sich ganz behutsam und mit irre viel Liebe seinen Hauptfiguren. Kann ich mich in einem Jahr noch dran erinnern? Ich fürchte Nein, aber das Internet vergisst bekanntermaßen nie und so sollen diese Zeilen bis in alle Ewigkeit als Anerkennung für dieses Juwel erstrahlen.

Header: Portrait de la jeune fille en feu, © Viennale

Michael Verfasst von:

Autor, Editor, Public Relations Michael ist der Arthouse Hipster des Teams, dessen Korrektheit und ruhige Art dafür sorgen, dass die Diskussionen immer fair bleiben und Beleidigungen nur zulässt, wenn sie mit Fakten belegt werden können.

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