Lynne Ramsays neuer Film ist eine übernatürliche Macht, die dich zu Boden schleudert.
Wer es sich leicht machen will, vergleicht Lynne Ramsays neuesten Film A Beautiful Day mit Taxi Driver. Warum auch nicht? Ein Einzelgänger, der den Bezug zur Realität verliert, wird in die Schattenseiten der Politik hineingezogen und versucht ein kleines Mädchen aus den Fängen des Bösen zu befreien. Hier hören die Ähnlichkeiten dann auch schon wieder auf. Obwohl, nicht ganz, denn A Beautiful Day wird wohl genauso lange im Gedächtnis bleiben, wie es Taxi Driver tut.
Ramsay lässt sich mit ihren Filmen immer etwas mehr Zeit. Zugegeben, zwischen ihrem neuesten Werk und dem unglaublichen We need to talk about Kevin war sie lange Zeit im Natalie Portman Western Jane Got A Gun involviert, inklusive Rechtsstreit, doch sie lässt sich nicht hetzen. Und das spürt man, jedes Detail wirkt wie von ihr auf der Leinwand platziert, sei es ein Silberbesteck, das Gegenwart und Vergangenheit verbindet oder die Regentropfen auf einer Fensterscheibe.
Phoenix und Ramsay
Es scheint, als hätte Ramsay in Joaquin Phoenix ihren kongenialen Partner gefunden. Zusammen zeichnen die beiden ein Bild eines Antihelden, das weit weg von typischen Männerbildern ist und sich auch nicht sonderlich mit dem des verletzten, aber liebevollen Mannes abgibt. Phoenix’ Joe ist kaputt, depressiv und potentiell suizidal, daran kann sich nichts ändern. Sein Körper ist massiv, aber nicht geformt, wie es bei solchen Rollen üblich ist. Sein Bart ist wild und ungepflegt, auf seiner Schulter sitzt eine ekelhafte Ausbeulung. Wie eine Urgewalt rauscht er durch die Welt, nichts kann ihn aufhalten, selbst wenn er sich das wünschen würde. In verstörenden Fragmenten werden die Gründe seiner Depression angespielt, aber nie vollständig erklärt. Da muss ein zuckender Fuß reichen.
Früh in der Produktion hat sich Ramsay mit Sound und Musik beschäftigt. Zusammen mit Jonny Greenwood von Radiohead, der auch die Musik für Paul Thomas Anderson Filme komponiert, entstand ein bebender Sound, der aufwühlt, der vorantreibt. Selten war die Dissonanz zwischen Mensch und seiner Umgebung so stark vertont wie hier. Jedes Auto, jedes Gespräch ist zu laut. Es ist klar, wieso Phoenix weg will. Das bisschen Ruhe findet er nur zuhause bei seiner Mutter (Judith Roberts).
Vergessen wir’s
Das Vergessen zieht sich wie ein roter Faden durch A Beautiful Day. Was tut man, um zu vergessen? Was passiert, wenn man es nicht schafft? Ein junger Joe zählt rückwärts, genauso wie die kleine Nina (Ekaterina Samsonov), wenn sie versucht aus der Realität zu flüchten. Gelingen tut das nicht, aber wenigstens entsteht eine Verbindung zwischen ihnen, als Joe versucht Nina – und sein junges Ich – aus einem Hochhaus zu befreien, das eine perfide Erinnerung an Pizzagate erzeugt.
Als wäre das alles noch nicht genug, gelingt es Ramsay obendrein in genau den richtigen Momenten von emotional auf abstrakt kalt umzustellen. Als Zuschauer ist man wie gefangen in Joes Wahrnehmung, bis zu dem Moment, in dem es brutal wird. In einem Geniestreich abstrahiert Ramsay die Gewalt, sie nimmt dem Publikum die Chance mit Joe mitzufiebern, stattdessen wird steril auf Überwachungskameras gezeigt, wie sich Joe seiner Gegner entledigt. Gewalt ist nie ein Moment der Freude oder des Sieges.
A Beautiful Day ist bei weitem kein einfacher Film, wer aber Ramsays frühere Werke – allen voran We need to talk about Kevin – kennt, weiß worauf er oder sie sich einlässt. Aber gerade im Vergleich mit Kevin wird A Beautiful Day geradezu zu Mainstream. In vielen Jahren wird man sich auch noch an diesen Film zurückerinnern, den man wohl nicht lieben kann, der aber am Meisterwerk kratzt.
Fazit:
Film: A Beautiful Day
Rating
Exzellent (5 von 5)
A Beautiful Day ist Lynne Ramsays neuestes Meisterwerk. Es nimmt dich auf eine Achterbahnfahrt, wenn Achterbahnen 90 Minuten nur steil nach unten fallen würden und du zeitgleich siehst, wie sich langsam die Sicherheitsbügel öffnen. Hoffnungslos geht es aufs Ende zu, weil du nicht nur zuschaust, sondern miterlebst.
Schreibe den ersten Kommentar