In dem Dokumentarfilm Unter Blinden beschäftigt sich Regie-Debütantin Eva Spreitzhofer mit dem sehbehinderten Bergsteiger und Extremsportler Andy Holzer. Wir klären auf, ob der Film auch abgesehen von seiner ungewöhnlichen Thematik überzeugen kann.
Die Mama gibt den Takt an
Das beeindruckende Leben des blinden Andy Holzer wird weder chronologisch, noch anhand eines bestimmten Ereignisses aufgezeigt. Die Erzählweise wirkt aber dennoch kaum willkürlich, da neben dem Sportler selbst vor allem seine Mutter eine wesentliche Rolle einnimmt. Mit ihren sympathisch vorgetragenen Anekdoten gibt sie still und heimlich die Themen von Unter Blinden vor. Der Film versteht es auch ganz gut, im richtigen Moment auf neue Dinge zu sprechen zu kommen.
Anfangs etwa konzentriert sich Unter Blinden sehr auf die Sportaktivitäten Holzers, was zunächst auch sehr interessant ist. Ehe dies zu eintönig wird, wechselt man zur nicht ganz unproblematischen Schulzeit, geht dann weiter zu Holzers Vortragsreisen und schwärmt dann von der großen Liebe. Wenngleich das zurecht ein bisschen nach Feelgood-Kino klingt, ist das Thema der Integration des sehbehinderten Menschen ständig anwesend. Im schönen Tirol, wo die Bewohner von Lienz schon Leute aus dem Nachbardorf als Auswärtige bezeichnen, ist natürlich auch eine sanfte politische Allegorie nicht weit hergeholt. Trotz all dieser positiven Eindrücke muss man dem Film aber, ohne einen schlechten Wortwitz provozieren zu wollen, eine gewisse Kurzsichtigkeit vorwerfen.
Ein bisschen mehr nachfragen, bitte
Ursprünglich war Autorin und Schauspielerin Eva Spreitzhofer nur für das Schreiben nachgestellter Szenen engagiert gewesen, die Position als Regisseurin bekam sie erst zu einem späteren Zeitpunkt des Projekts. Vor Beginn der Recherchearbeiten war ihr Andy Holzer noch kein Begriff gewesen. Doch selbst ohne diesem Vorwissen kommt man während Unter Blinden oftmals nicht an dem Gefühl vorbei, die Beschäftigung der Filmemacherin mit ihrem Protagonisten sei eine eher oberflächliche.
Das äußert sich allerdings keineswegs im Umgehen von nahezu philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Unterschied zwischen Sehenden und Blinden. So erklärt uns Holzer gleich in der ersten Szene, um seine Sicht der Dinge zu verstehen, müsse man sich nur einen violetten Apfel vorstellen. Dies wäre “uns Sehenden” ja auch möglich, obwohl uns naturgemäß noch nie ein violetter Apfel untergekommen sei. Er selbst, so erklärt er, habe konkrete Vorstellungen von dreidimensionalen Objekten, ja sogar von Farben, in seinem Kopf sei es geradezu wild bunt.
Aussagen wie diese, die auf den ersten Eindruck zwar recht interessant wirken, aber bei genauerer Überlegung sehr kritisch zu betrachten sind, lässt Spreitzhofer leider immer wieder unhinterfragt stehen.
Schlüsselszene unter Blinden
Auf der einen Seite ist das natürlich nachvollziehbar. Denn allzu weit hergeholt ist eine Heldenverehrung, und eine solche ist Unter Blinden, ja nicht. Dass der blinde Andy Holzer Skifahren geht, Radtouren bestreitet, Vorträge hält und selbst am Mount Everest nur wegen unglücklichen Zufällen scheitert, ist wahnsinnig beeindruckend. Allerdings tappt der Film in die Falle, körperliche Behinderungen als etwas darzustellen, das definitiv überwunden gehört. So schön die Geschichte Holzers auch ist, man kommt nicht dran vorbei, sich vorzustellen auf welch dünnem Eis sich sein Weltbild bewegt.
Besonders auffällig wird das in der späten Schlüsselszene des Filmes, als der Bergsteiger sich mit dem ebenfalls blinden Musiker George Nussbaumer darüber unterhält, wie die beiden die Außenwelt wahrnehmen. Während Holzer auch hier von den bereits erwähnten Farben in seinem Kopf spricht, meint Nussbaumer nur nüchtern, ob das Gras nun grün sei, könne ihm eigentlich relativ wurscht sein. Auch wie das Klavier aussieht, das er bei jedem seiner Konzerte bedient, sei ihm eher gleichgültig, solange er die richtigen Tasten finde. In diesem Moment kristallisiert sich am stärksten heraus, was bis dorthin schon längst klar geworden ist: Holzer lehnt ein Leben als Behinderter strikt ab. Dass aber gerade diese Haltung wiederum eine besondere Form des Ausschließens ist und man zwangsläufig zum Grübeln kommt, wie barrierefrei unsere Welt wirklich ist, wird im Unter Blinden nicht behandelt.
Der Maier-Effekt
Im Endeffekt gibt es den mit Finding Vivian Maier zu vergleichenden Effekt, dass man danach interessante Gespräche über ein Thema führen kann, die der Film aber wohl gar nicht provozieren wollte. Insofern sind die Kinderkrankheiten von Spreitzhofers Debüt fast zu ignorieren, immerhin führen ja scheinbar alle Wege nach Rom. Ein kurzer Kritikpunkt aber muss noch angebracht werden: Die Heldenverehrung geht leider auch auf Kosten eines zeitgemäßen Frauenbildes. Denn wenn Andy Holzer die Arbeitsteilung zuhause mit den Worten “Sie kocht, ich esse” beschreibt und sich der Film noch nicht einmal hier ein kritisches Wort erlaubt, droht auch der Zuseher blind zu werden – vor Wut nämlich.
Moviequation:
Fazit (Michael):
Film: Unter Blinden
Rating:
Obwohl Unter Blinden einem kritischen Ton seinem Thema gegenüber viel zu deutlich aus dem Weg geht, werden interessante Gedanken und Gespräche fast unumgänglich evoziert. Insofern kommt der Film fast wie die Jungfrau zum Kind – (leicht über)durchschnittliche Leistung, großer Effekt.
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