Die französische Erfolgskomödie der Woche heißt Verstehen Sie die Bèliers? (franz.: La famille Bèlier) und erzählt von einer Jugendlichen, die als einziges Mitglied ihrer Familie nicht taub ist. Der Film geht der typischen Formel nicht komplett aus dem Weg, trifft aber genug Untertöne, um sich von der Masse abzuheben.
Trotz ihrer Jugend ist die 16jährige Paula Bèlier (Louane Emera) längst der Boss am Bauernhof ihrer vierköpfigen Familie in einem kleinen französischen Ort. Denn sowohl ihre Eltern (Karin Viard und François Damiens), als auch ihr kleiner Bruder Quentin (Luca Gelberg) sind gehörlos. Die sympathische Konstellation droht allerdings zu zerbrechen, als Paula ihr Stimmtalent entdeckt und Chorleiter Thomasson (Éric Elmosnino) ihr die Bewerbung an einer Pariser Gesangsschule nahe legt.
Auch Jugendliche können normal sein
Von Beginn an wird etabliert, dass Paula, die immer als Übersetzerin für ihre Familie fungieren muss, durch ihre großen Kompetenzen innerhalb der Familie bereits eine sehr vernünftige junge Frau ist. Auch ist sie in der Schule entsprechend selbstbewusst, weswegen Zickenkriege nur im Hintergrund zu erahnen sind. Generell herrscht zwischen den Jugendlichen trotz kleinerer Reibereien ein angenehmes Privatschulenklima, das Mobbing weitestgehend ausschließt. Nicht nur das Drehbuch leistet in diesem Sinne vorbildliche Arbeit, auch im Detail liegen hier gute Entscheidungen, wie beispielsweise das Zurückgreifen Paulas auf eine nur sehr kleine Auswahl verschiedener Outfits. Natürlich spielt die Liebe eine Rolle, womit die Hauptfigur aber ebenso souverän umgeht wie ihr Angebeteter Gabriel (Ilian Bergala) oder ihre ein wenig sexsüchtige beste Freundin Mathilde (Roxane Duran).
Das ist extrem angenehm und macht auch die recht klischeehaften Nebenplots leicht nachvollziehbar. Der ebenfalls gesanglich außergewöhnlich talentierte Gabriel möchte zwischendurch hinschmeißen, schwänzt die Schule und ist ein bisschen auf Bad Boy-Kurs. Anders als in vielen Filmen wird diese Problematik aber nicht unnötig in die Länge gezogen, sondern dank der großen Vernunft der Charaktere zügig wieder bereinigt. Auch die Annäherung zwischen den beiden Turteltäubchen, die natürlich zufällig ein Duett miteinander singen müssen, geht trotz altbekannter Kitschszenen relativ schmerzfrei über die Bühne.
Unerwartet ernste Untertöne
Während die Jugendlichen ein angenehm erwachsenes Bild abgeben, werden Paulas Eltern im Kontrast dazu mit an Debilität grenzender Verrücktheit dargestellt. Vater Rodolphe möchte als erster Behinderter Bürgermeister seines Ortes werden, beschimpft im Wahlkampf aber seine Gegner ebenso wie die Wählerschaft. Mutter Gigi hingegen zelebriert die erste Menstruation ihrer Tochter mit euphorischem Gehüpfe vor den Augen Gabriels. Man muss sich ja nicht auf Taubheit als einzigen Charakterzug beschränken, aber die teilweise ins Absurde abdriftende Überzeichnung des Elternpaares passt nicht zum sonstigen Bild des Filmes, der sich nämlich mehr Gedanken macht, als man ihm zunächst zutrauen würde.
Vor allem die Frage wie das Bauernhofleben vor der Geburt der Tochter ausgesehen haben könnte, ist dem Zuseher ständig im Hinterkopf. Diese bekommt man auch nicht direkt geboten, aber in Implikationen wird klar, dass sich die einst allein lebenden Eltern im Laufe der Jahre von ihrer Tochter abhängig gemacht haben. Der interessanteste Moment aber ist, als die Mutter gesteht, mit der Nicht-Taubheit ihrer Tochter zunächst Probleme gehabt zu haben, was sich durch die Tatsache, dass Paula ausgerechnet großes Talent zum Singen aufweist, natürlich noch verstärkt. Das entfremdete Gefühl der Eltern, deren Kind in eine Welt eintritt, die für sie selber immer verschlossen bleiben wird, wird hier natürlich in extremen Maße dargestellt, dennoch werden sich viele Opfer des Leeren Nest-Syndroms damit identifizieren können.
Dementsprechend muss man dem Film die symbolisch etwas überkonstruierte Konstellation, dass ausgerechnet die Tochter zwei tauber Eltern zur Sängerin wird, auch verzeihen. Immerhin macht man das Beste daraus, was in einer essentiellen Szene gipfelt, die einen wichtigen Auftritt des Mädchens aus den Augen der gehörlosen Familie zeigt. Anstatt sich der Versuchung hinzugeben, das Duett zwischen Paula und Gabriel als Höhepunkt einer Lovestory zu inszenieren, trifft Regisseur Eric Lartigau damit eine mutige Entscheidung, die zudem viel Sinn macht.
Verzeihbare Überlänge
Gegen Ende will sich der Film versichern, seine Botschaften auch angebracht zu haben, wobei es in mehrfacher Hinsicht starke Anleihen an Little Miss Sunshine nimmt. Wenngleich das natürlich ein tolles Vorbild ist, gibt es in der letzten halben Stunde von Béliers ein paar vermeintliche Schlüsselszenen zu viel. Vor allem die letzten zwei Sequenzen versuchen die Familien-Botschaft des Filmes ein wenig gar offensichtlich zu machen. So fühlt sich dieser letzte Akt ein bisschen in die Länge gezogen an, was angesichts der Laufzeit von 100 Minuten ja nicht notwendig gewesen wäre. Das Gesamtbild wird dadurch allerdings nur leicht beeinträchtigt, weil Verstehen Sie die Béliers? zu diesem Zeitpunkt die Sympathien des Publikums bereits längst sicher hat.
Abschließend muss noch ein Extra-Lob an die 18jährige Hauptdarstellerin Louane Emera ausgesprochen werden. In Frankreich ist sie durch die Musik-Castingshow The Voice bekannt geworden, was sich anhand ihrer beeindruckenden Chanson-Interpretationen im Film leicht nachvollziehen lässt. Aber es ist nicht in erster Linie der Gesang, mit dem sie beeindruckt, sie verleiht ihrem Charakter schauspielerisch unerwartete Tiefe, die auch neben den übertrieben dargestellten Eltern aufrecht bleibt. Ihre überzeugende Darstellung, die bis hin zur Körperhaltung absolut überlegt zu sein scheint, führt zu einer interessanten Figur, die in den Händen einer anderen Schauspielerin weitaus oberflächlicher werden hätte können.
Moviequation:
Fazit (Michael):
Film: Verstehen Sie die Bèliers? (franz.: La famille Bèlier)
Rating:
Trotz einiger Schwächen kann sich Verstehen Sie die Béliers? dank authentischen Jugendlichen, einer großartigen Hauptdarstellerin und einigen Hintergedanken von seinen französischen Komödien-Artgenossen der jüngsten Vergangenheit klar abheben. Daher ist er für jeden zu empfehlen, der Lust auf eine Komödie hat, die harmlos nicht mit sinnlos verwechselt.
Schreibe den ersten Kommentar