Im Jahr 2004 filmen Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer* erste Szenen über die letzten verbliebenen Angestellten sowie den Chef einer Textilfabrik, die kurz darauf geschlossen werden muss. In regelmäßigen Abständen, zum letzten Mal im Herbst 2014, besucht Geyrhalter diese Personen immer wieder, um ihren weiteren Lebensweg zu erkunden. Das Resultat, Über die Jahre, ist ein kaum zu fassendes Dokumentations-Epos, das einem genau so viel über das Leben erzählt, wie man hören möchte.
“Es is zum aushalten”
Erzählt wird ausschließlich in Interviews, die Geyrhalter mit seinen ProtagonistInnen, sowie zum Teil deren engsten Familienmitgliedern (Eheleute, Eltern, Kinder), im Laufe der Jahre geführt hat. Ausgangspunkt sind die letzten Monate der Anderl-Textilfabrik in Schrems, ganz im Norden des niederösterreichischen Waldviertels. Dort ist nicht zuletzt mit dem Vorwissen, dass die Schließung der Fabrik ein wesentliches Thema des Filmes ist, eine deutlich depressive Stimmung zu spüren. Aber anders als beispielsweise die oscarnominierte Kurz-Doku The Last Truck: Closing of a GM Plant geht es Geyrhalter und Widerhofer nicht um das pre-apokalyptische Gefühl vor dem Unglück, sondern vielmehr darum, wie es danach weitergeht.
Da sich der Film schließlich mehr als zehn Jahre von der Schließung der Fabrik weg bewegt, wird dieses Weiterleben zum alles übergreifenden Thema. Eine Protagonistin meint schon beim ersten Wiedersehen “Es is zum aushalten”, womit sie die Einstellung eigentlich aller dargestellten Personen zusammenfasst. Zumindest auf beruflichem Weg finden nur die wenigsten ihr großes Glück. Um sich einer cineastischen Referenz zu bedienen, könnte man sagen, der Film sei die dreistündige Version der berühmten Schlussszene von Die Reifeprüfung, in der auf den Hauch von Euphorie das Landen auf dem harten Boden der Realität folgt. Trotzdem wird “gesund bleiben” als Zukunftswunsch etabliert und trotz gelegentlichem Frust immer an einer “passt scho”-Lebenseinstellung festgehalten. Die stets ignorierte Leere des Arbeitslosen-Alltags wird, wenn auch unaufdringlich, immer stärker spürbar.
Man will wissen wie es weitergeht
Geyrhalters Führung der Gespräche ist dabei jenes Element, das diesen Film so unfassbar stark macht. Er findet eine perfekte Art, um die oft losen Gedankenäußerungen seiner ProtagonistInnen in eine Richtung zu bringen, ohne sich jemals in irgendeiner Weise in dem Film drängen zu wollen. Außerdem, und darin liegt ein entscheidender Vorteil gegenüber anderen österreichischen Dokumentarfilmen, ist er sich nie zu schade, die offensichtlichen Fragen zu stellen. Gleichzeitig aber hat man trotz einiger sehr persönlicher Details nie das Gefühl, die Figuren wären jemals dazu gedrängt worden, irgendetwas zu erzählen, dass sie nachträglich betrachtet lieber für sich behalten hätten.
Dennoch dürften naturgemäß manche der Personen weniger daran interessiert gewesen sein, in einem Kinofilm porträtiert zu werden, als andere. Daher gibt es auch ProtagonistInnen, die über eine lange Zeitspanne verschwinden, um erst viel später, teils durch Zufall, wieder aufzutauchen. Aber genau so wie man eben von manchen Menschen mal ein bisschen mehr und dann wieder ein bisschen weniger sieht, so ist eben auch das Leben all dieser Personen keine berechenbare Konstante. Wichtig ist nur, und das gelingt dem Film hervorragend, dass man nie Interesse an den verschiedenen Lebenswegen verliert, auch wenn diese über mehrere Jahre recht unspektakulär verlaufen mögen. Nicht nur ist man stets daran interessiert, wie es weitergeht, auch hat man trotz der langen Laufzeit von drei Stunden nie das Bedürfnis danach, auf die Uhr zu schauen.
Reich an Botschaften, aber ohne Selbstgerechtigkeit
Diese ProtagonistInnen sind aber, und damit möchte ich niemanden zu nahe treten, objektiv gesehen nicht sofort mit Adjektiven wie hochinteressant in Verbindung zu bringen. Daher muss auch unterstrichen werden, dass Über die Jahre, wenngleich es eine Beobachtung ist, sehr wohl auch von bewussten Entscheidungen der Filmemacher profitiert. Ein künstlerischer Griff sind etwa kurze Schwarzblenden, die als einziges Schnitt-Werkzeug während der individuellen Segmente dienen. Ohne mit dem Finger darauf zu zeigen und dadurch die Dargestellten zu entblößen, werden so die Lücken während der einzelnen Gespräche spürbar.
Generell ist dieser Film ein Lehrbeispiel dafür, dass man *hust Seidl hust* in einem Dokumentarfilm auch Gedanken evozieren kann, ohne seine Akteure bloßstellen zu müssen. Immer wieder gibt es wiederkehrende Verhaltensmuster, widerlegte Fehlprognosen und abgrundtiefe Widersprüche, die aber nicht durch provokante Bilder, sondern durch reines Beobachten veranschaulicht werden.
So gibt es beispielsweise einen gewissen Bogen, da im Leben einer Protagonistin ein tragisches Ereignis sozusagen zwei Mal auftritt, aber in einer jeweils sehr unterschiedlichen Beziehung zu ihr. Man muss kein Meisterregisseur sein, um zu erkennen wie naheliegend es gewesen wäre, auf die Ironie des Schicksals zu sprechen zu kommen. Doch maßt sich der Film nie an, in diesen Fällen mit irgendeinem kleinen Trick aus der Schneidekammer oder eben einem reflektiven Nachhaken, diese Zusammenhänge dem Publikum offensichtlich zu machen.
Jeder sieht einen anderen Film
Durch seine gesamte Machart ist Über die Jahre ein Film, bei dem es am Ende keine Message im üblichen Sinne gibt, der aber dafür eine gewaltige Gedankenflut im Kopf provoziert. Ob man nun die Phrase “Die besten Geschichten schreibt das Leben” als verifiziert sehen will, lieber über Schicksal diskutieren möchte, sich plötzlich zu einer Sozialstudie über einen Ort im Waldviertel berufen sieht oder aber die hoffnungslose Arbeitsplatzsituation in Kleinstädten anprangert – was genau man von diesem Film mitnehmen möchte, ist einem selbst überlassen. Ganz kalt wird er einen aber mit Sicherheit nicht lassen.
Moviequation:
Fazit (Michael):
Film: Über die Jahre
Rating:
Es widerspricht meiner rationalen Einstellung gegenüber der Gesellschaft, von irgendeinem Film zu behaupten, er würde jedem gefallen, weshalb man ihn gesehen haben sollte oder gar müsste. Über die Jahre in allerhöchstem Maße jeden zu empfehlen, der ein absolut außergewöhnliches Kinoerlebnis haben möchte, sehe ich aber als meine persönliche Verpflichtung an.
*Geyrhalter ist als Regisseur, Kameramann und ergo auch Interviewer angeführt, Widerhofer war für den Schnitt und die Dramaturgie zuständig, das Drehbuch verfassten die beiden gemeinsam. Wenngleich Filmjournalisten im Allgemeinen und auch wir im Speziellen die Phrase “ein Film von” fast ausschließlich zur Nennung des Regisseurs verwenden, scheint es mir nach Sichtigung des Filmes sowie Lesen der Presseunterlagen die einzig seriöse Variante zu sein, Über die Jahre als einen Film von Nikolaus Geyrhalter UND Wolfgang Widerhofer zu bezeichnen.
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