Mommy

Die heimischen Kino-Fans werden in diesem Jahr gleich mit zwei Filmen von Wunderkind Xavier Dolan beglückt. Nach dem von uns hochgelobtem Sag nicht wer du bist erscheint kurz vor Weihnachten das Familendrama Mommy, in dem der kanadische Exzentriker zwar ausnahmsweise nicht selbst mitspielt, aber dennoch für ihn typische Motive aufrollt.

In der nahen Zukunft des Jahres 2015 gibt es in Kanada ein Gesetz, das Eltern die Möglichkeit gibt, problematische Kinder an den Staat abzugeben. Im Schatten dieser Prämisse wird der jugendliche Steve (Antoine-Olivier Pilon) aus einer psychischen Heilanstalt entlassen, um wieder bei seiner Mutter Diana, genannt Die (Anne Dorval), zu leben. Doch diese ist mit ihrem von ADHS-Symptomen überfluteten, völlig unberechenbaren Sohn schon bald überfordert.

Auszeit von der Realität nehmen

Trotz seiner (übringens vertretbaren) langen Laufzeit von knapp zweieinhalb Stunden sind Grundstimmung und Thematik von Mommy sehr schnell klar ersichtlich. Wie in Dolans Debüt I Killed My Mother steht auch hier eine zwischen Liebe und Konfliktreichtum gefangene Mutter-Sohn Beziehung im Mittelpunkt. Doch während im Erstlingswerk die Jugendlichkeit des Regisseurs in der teils irrationalen Wut der Hauptfigur noch stark zu spüren war, liegt der Fokus hier stärker auf dem hoffnungslosen Scheitern der Mutter.

Ihr Leben von vornherein nicht im Griff habend, wird Die nach der Rückkehr ihres Sohnes immer stärker von dessen Stimmungsschwankungen dominiert. Sequenzen zwischen den beiden Hauptfiguren wechseln oft von Steves fast schon inzestiös anmutender Mutter-Verehrung zu spontanem Hass, der sich in Gewaltexzessen entlädt. Spätestens als die Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), eine ehemalige Lehrerin, deren Berufsleben wegen Stotterns seit Monaten brach liegt, zu den beiden stößt, ist auch die unterdrückte Sexualität wieder ein großes Thema. Während diese anderswo zum Hauptproblem ernannt werden würde, wird das Verschweigen der verbotenen Gedanken hier von den Charakteren geradezu zelebriert und zur Stütze einer zerbrechlichen sozialen Konstellation erhoben, die für die drei Involvierten ein kurzer Ausflug von der Hoffnungslosigkeit ist.

Eingezwängt im 1:1

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Viel Grund zur Freude hat man in Mommy dennoch nicht, selbst in den entspannteren Momenten scheint das Unglück stets hinter der nächsten Ecke zu lauern. Untermalt wird das von dem klaustrophobischen 1:1-Format, das Dolan nur sporadisch aufbricht, wobei die Symbolik ganz deutlich ist. Auch wenn es nicht viel über die Story verrät, soll darauf aber nicht genauer eingegangen werden, um den Überraschungseffekt eines bestimmten Momentes nicht zu zerstören. Denn nach etwa eineinhalb Stunden wird ein Kunstgriff getätigt, der so offensichtlich brillant ist, dass man von einem potenziellen Shot des Jahres sprechen kann.

Sehr offensichtlich wird die Anwesenheit des Regisseurs auch bei Wahl sowie Einsatz der Musik. So wird etwa die vermeintliche Rebellion von Steve als verzweifelte Mutterliebe enttarnt, wenn der Teenager Musik aus Die’s Blütezeit hört anstatt sich modernen Trends hinzugeben. Aber auch der Einsatz von Tracks wie Wonderwall oder auch Blue (Da Ba Dee) ist keinesfalls willkürlich, stattdessen wird die in anderen Umständen fast schmerzhafte Einfachheit der Texte zu großen Effekt genutzt. Ein frühes Highlight in dieser Hinsicht ist eine Sequenz, in der Steve kurz nach seiner Entlassung aus der Anstalt einen kleinen Konflikt mit seiner Mutter hat, während Dido’s White Flag penetrant darüber gelegt wird.

Reifeprozess des Wunderkinds

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Bei Xavier Dolan musste man ohnehin noch nie einen Mangel an Ideen befürchten, lediglich ein bedingt sinnvolles Einsetzen derselbigen konnte gelegentlich kritisiert werden. Hier aber macht nicht nur jeder noch so offensichtliche Handgriff Sinn, sondern haben die Spielereien auch die stärkste emotionale Wirkung des ganzen Filmes. Während der kleine Trick mit dem Format zu Tränen rührt, fügt der penetrante Einsatz der Musik eine tiefere Bedeutungsebene ein.

Einzig der einleitende Text, der die Geschichte in einen Zukunfts-Kontext versetzt, erscheint ein eher überfüssiges Ergebnis von Dolans nicht zu bändigender kreativer Energie zu sein. Die eingeführte Thematik verwirrt den Zuschauer, fühlt sich von Beginn weg wie ein Spoiler an und wirkt auch nach dem darauf Referenz nehmenden Ende noch überflüssig. De facto hat es aber keinen Einfluss auf den Film, weshalb dieses Manko, das einzige das man dem Film vorwerfen kann, eines von minimalsten Ausmaß ist.

Man kann aber auch nicht übersehen, welch großartige Leistungen Dolan aus seinem Cast herausgeholt hat. Es ist Pilons gewissenhafter Porträtierung des Jugendlichen zu verdanken, dass Steve bei aller Unberechenbarkeit ein nachvollziehbarer Charakter bleibt, geplagt vom frühen Verlust des Vaters und einer endlosen sozialen Unsicherheit. Im Hintergrund dieser Exzentrik liefert Dorval aber als zutiefst zerbrechliche Überlebenskämpferin die beeindruckendste Schauspielleistung des Filmes. Suzanne Cléments Kyla hingegen trägt ihre Probleme offensichtlicher zur Schau, was auch zur stärksten sichtbaren Charakterveränderung führt. Und auch Patrick Huard als, trotz verständlicher Aktionen, zutiefst unsympathischer Verehrer von Die muss ob seiner großen Authentizität erwähnt werden.

Moviequation:

moviequation mommy

Fazit (Michael):

Film: Mommy
Rating:

User3.Leitner.Rating5.Excellent.Frei.Small
Exzellent (5 / 5)

Mommy ist eine kreative Explosion, die derart gut kanalisiert ist, dass man zugleich unfassbar beeindruckt und emotional zutiefst berührt ist. Wenn man sich vom zu Ende gehenden Kinojahr mit nur einem Film verabschieden möchte, es muss einfach dieser sein.

Michael Verfasst von:

Autor, Editor, Public Relations Michael ist der Arthouse Hipster des Teams, dessen Korrektheit und ruhige Art dafür sorgen, dass die Diskussionen immer fair bleiben und Beleidigungen nur zulässt, wenn sie mit Fakten belegt werden können.

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