Xavier Dolan, das frankokanadische Wunderkind ist zurück mit einem neuen Film und versucht seinem Ruf alle Ehre zu machen in einem von ihm bisher unergründeten Genre, dem Psychothriller. Für Sag nicht, wer du bist! adaptierte er das Theaterstück von Michel Marc Bouchard Tom à la ferme.
In seinem nun schon vierten Film mit 25 (seinen ersten Film veröffentlichte er im zarten Alter von 19 Jahren) nimmt er neben dem Regiestuhl wie gewohnt auch die Rolle des Hauptdarstellers ein. Tom (Xavier Dolan) fahrt von Montreal mitten in die Einöde, gerade mal ein paar Häuschen und Farmen finden sich dort, um an der Beerdigung seines suizidalen Geliebten teilzunehmen. Doch dort angekommen, gerät er sehr schnell in die Gewalt des größeren Bruders Francis (Pierre-Yves Cardinal), der unter anderem verzweifelt versucht seiner Mutter Agathe (Lise Roy) die Homosexualität des verstorbenen Sohnes vorzuenthalten. Was sich danach entfaltet ist ein Psychothriller auf allerhöchstem Niveau, der Tom zwischen Freundschaft, Pflichtbewusstsein und purer Angst porträtiert.
Von der ersten Sekunde Spannung pur
In der ersten echten Szene des Filmes kommt Tom auf der derzeit verlassenen Farm an und sucht schon leicht verängstigt nach den Angehörigen ab. Man bekommt gleich ein ungutes Gefühl, wenn man den alten Hof sieht, umstellt von hohen Kukuruzfeldern. Man meint fast den schlammigen Boden unter seinen Füßen zu spüren und fragt sich gleichzeitig mit Tom, ob er vielleicht einfach zur falschen Adresse gefahren ist. Von dem Moment an hat man keine Zeit mehr richtig durchzuatmen, man ist schon hochgespannt, bevor überhaupt erst der Psycho Francis auf der Leinwand erscheint und Tom droht, ja nichts über seine Homosexualität oder jener seines Geliebten zu verraten.
In jeder Szene gelingt es Dolan durch seine unglaubliche Bildsprache die Unsicherheit einzufangen. Sei es eine Tanzszene in der Scheune zwischen Tom und Francis, die durch die Ähnlichkeit des Lichtes an die wahnsinnige und gefährliche Schwester der berühmten Szene aus Dirty Dancing erinnert. oder ruhige Stillaufnahmen von Toms Zimmer, in dem das Bett von Francis immer näher rückt.
Die große Kunst der Inszenierung
Es gibt keinen einzigen Shot, keine Szene, kein Wort, das in Sag nicht, wer du bist! zu viel wäre. Alles was ich weglassen würde, hätte ich die Wahl, wären die letzten zwei Minuten, aber das ist sudern auf unglaublich hohem Niveau. Man merkt das Gespür Xavier Dolans für gute Aufnahmen und eindrucksvolle Bilder. Man kann den Film so oft einfach anhalten und sich das Bild beeindruckt anschauen, weil es so viel Aussage über das Geschehen hat. Es gibt das Bild von Tom, der sich von außen gegen eine Fliegentür lehnt, so einfach, doch so schön. Ein anderer Kunstgriff ist die Wahl unterschiedlicher Stile für einzelne Abschnitte um nicht eintönig zu werden.
Später im Film kommt auch noch Sarah (Evelyne Brochu) auf die Farm, um zu sehen, weshalb Tom die letzten Wochen verschwunden ist. Erst ab dem Augenblick erkennt man, wie gefährlich Francis in Wirklichkeit ist, nicht nur, weil er auch Sarah dazu bringt in der Scharade für seine Mutter Agathe mitzuspielen, sondern auch weil man einen unter Stockholm-Syndrom leidenden Tom zu Gesicht bekommt und man wirklich Angst bekommt, dass es kein Entrinnen mehr gibt.
Echte Charaktere wohin man blickt
Heutzutage geben sich viele Filme damit zufrieden einen echt wirkenden Charakter zu haben und der Rest sind eindimensionale Kartonausschnitte von Menschen, die nur existieren um die Handlung voranzubringen. Sag nicht, wer du bist! trotzt dieser Konvention und gibt jeder handelnden Person eine Tiefe aus der die Schauspieler schöpfen können. Francis ist der interessanteste Bösewicht seit einiger Zeit, jemand der seine Handlungen rechtfertigen kann. Er zeigt genug Facetten sodass das Publikum versteht, dass dieser eingebildete, brutale Möchtegern-Womanizer eigentlich ein verschrecktes Kind ist, das mit der eigenen latenten Homosexualität nicht zurecht kommt. Und trotzdem dauert es bis ganz ans Ende des Filmes, bis man wirklich versteht was in ihm vorgeht und welche Gefahr von ihm ausgeht, wenn man das Falsche sagt oder tut.
Moviequation:
Verikt:
Film: Sag nicht, wer du bist! (fr.: Tom à la ferme)
Rating: Exzellent
Sag nicht, wer du bist! ist ein toller Film, den man gar nicht zu viel loben kann, es trotzdem nicht tun sollte, um niemandem ein grandioses Erlebnis zu versauen. Xavier Dolan wird seiner Rolle als interessanter, junger Regisseur gerecht, der hier seinen inneren Alfred Hitchcock rauslässt und man muss ihn schon allein für seine beispiellose Implementierung eines der großen Streitthemen unserer Zeit, der Homosexualität, loben. Wenn es einen Film gibt, den man sich zur Zeit anschauen sollte, dann diesen.
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